Der letzte Strohhalm

London, England
04. 08. 1975, 3 Minuten nach 19 Uhr

Obwohl es für englischen Sommer recht kühl war und Lilith sich ausnahmsweise normale Kleidung besorgt hatte, kam es ihr trotzdem sehr warm vor. Vielleicht hätte sie sich die Adresse des Anwalts aufschreiben sollen, jetzt fiel es ihr schwer sich in der Metropole zu orientieren. Ohne die Erlaubnis ihrer Eltern war sie mit einer ihrer Freundinnen außerhalb der regulären Schultage nach England geflogen. Es war ja auch ein sehr wichtiges Anliegen, Lilith wurde mit dem Tod ihres Exfreundes in Verbindung gebracht, es wurde sogar behauptet sie hätte den Todesfluch selbst ausgesprochen. Der Gedanke zu einem Anwalt zu gehen war schon komisch, aber zumindest hatte Mr. Bane einen guten Ruf und Lilith war sicher mit seiner Hilfe unbeschadet davonzukommen.

Versteckt in einer engen Kasse entdeckte Lilith dann den Eingang zu der Kanzlei, die Tür öffnete sich nur schwer und die Finnin stolperte unbeholfen in den Wartesaal. Außer ihr waren keine anderen Klienten anwesend, ein gutes Zeichen, so würde sie nicht so lange warten müssen. Beruhigt ließ sie sich auf einen der Holzstühle und sah immer wieder in die Richtung der Bürotür. Die Finnin hatte nicht den reinsten Schimmer wie ihr Anwalt denn aussah und ob er um diese Uhrzeit ohne einen Termin überhaupt noch mit ihr sprechen wollen würde. Ein paar Galeonen und Sickles hatte sie noch mitnehmen können, aber schon allein der Umstand so weit entfernt zu sein von ihrer Heimat machte sie ein wenig nervös.

Denny saß auf seinem lederbezogenen Chefsessel. Wuchtig, etwas schludrig, aber vor allem breit. Mit 30 war er noch schlank gewesen, auch noch mit 50, aber so langsam erinnerte er doch etwas an eine Kugel, wobei er das niemals hätte wahrhaben wollen. 'Ein echter Mann muss so aussehen, das zeugt von Lebensqualität, Stolz, und ...Sieg', würde er behaupten, würde er darauf angesprochen. Dass seine Gesundheit darunter leiden konnte, traute sich keiner, ihm zu berichten.

Eben gerade noch war seine Masseuse dagewesen, hatte ihm nicht nur den Rücken massiert, und jetzt grinste Dennis Bane, den niemand Dennis nennen würde, selbstzufrieden und glücklich vor sich hin, summte eine kleine Melodie, die ihm spontan durch den Kopf ging, und liebte die Welt einen Moment lang, bis ihn seine Sekretärin, schlank, mit Holz vor den Hütten, genau danach ausgesucht und entsprechend ein wenig unterqualifiziert, ihn aus seinen Gedanken riss und ihm berichtete, draußen würde jemand sitzen.

So etwas kam nicht häufig vor. Normalerweise hatte er nur Großklienten, die einen Termin hatten, oder verzweifelte Leute, die reinkamen und 'Ich brauch einen Anwalt!' riefen, aber die junge Dame, die er jetzt draußen sah, schien eher still zu sein. Aber vielleicht stand sie ja unter irgendeinem Schock. "Wollen Sie zu mir?", fragte er vorsichtig, wobei sein Blick aber trotzdem zu ihrer Oberweite glitt. Dann riss er sich zusammen und schaute ihr in die Augen. "Denny Bane, der beste Anwalt des Planeten. Ich denke, Sie sind bei mir gut aufgehoben. Wollen Sie einen Kaffee oder einen Tee?" Mit einer fast schon lieben, freundlichen Geste - man will Klienten ja nicht verschrecken - deutete er ihr, mit in sein Büro zu kommen.

Es dauerte noch bestimmt fünf Minuten bis sich die Tür zum Büro des Anwalts öffnete, die Finnin musterte den Mann der herauskam. Er war überhaupt nicht so wie sie ihn sich vorgestellt hatte, mindestens 50 Jahre war er alt und nicht wirklich dünn. Als sie noch jünger war kamen ständig Anwälte in das Haus ihrer Familie, Liliths Vater war und ist ein ziemlicher jähzorniger Mann, es ist nicht der erste Mordfall in den er verwickelt ist. Wahrscheinlich hatte er im Leben viel Stress gehabt, oder einfach zu viel Freizeit. Sie spürte die musternden Blicke des Mannes, so angesehen zu werden machte die Situation in keinem Sinne besser.
Unsicher erhob Lil sich von dem Stuhl. „ Ja, ich wollte zu ihnen Mr. Bane. Ich hatte gehofft sie würden mich in einer wichtigen Angelegenheit unterstützen. Ein Kaffee wäre sehr nett. „
Die junge Frau hatte in der letzten Nacht kaum Schlaf gefunden, ihre Unterkunft in London war alles andere als komfortabel.

Sie folgte Denny in sein Büro und ließ sich dort in einen der kleineren Sessel gegenüber dem Chefsessel auf der anderen Seite des Schreibtisches fallen. Sie vergewisserte sich dass der Anwalt nicht hinsah und rückte ihren Rock zurecht, dann überschlug sie ihre Beine und warte geduldig auf den Mr. Bane und den Kaffee.

Denny nickte und zeigte seiner Sekretärin mit zwei Fingern, dass sie doch bitte auch gleich zwei Tassen Kaffee bringen sollte, bevor er die junge Dame hinein begleitete, die ein wenig fertig aussah. Die Strümpfe erinnerten noch an ein Schulmädchen, die restliche Kleidung eher an eine Bordsteinschwalbe, die nicht gerade Glück mit ihrem Zuhälter hatte. Gut schien es in ihrem Leben also gerade nicht zu laufen - oder wollte sie vielleicht nur Mitleid erwecken?

"Also gut, Miss... wie war ihr Name? Was kann ich für Sie tun?", fragte er etwas besorgt, aber auch neugierig, und zückte gleich einen Stift und Papier, um die wichtigsten Informationen aufzuschreiben - vor allem, weil er in letzter Zeit etwas vergesslich war. Und schon kam auch der Kaffee auf einem Tablett mit Milch und Zucker, also legte Denny den Stift wieder weg. "Wie hätten Sie ihren Kaffee gern?", wollte er ihr, wie ein Gentleman, den Kaffee trinkfertig überreichen. "Wie alt sind Sie überhaupt? Normalerweise haben wir keine so jungen Klienten, oder zumindest kommen die mit ihren Eltern. Wissen ihre Eltern denn, dass Sie hier sind?" Und wer zahlt mein Honorar?

Lilith nahm eine Tasse von dem Tablett, wortlos trank sie einen Schluck und verbrühte sich beinahe die Lippen. Wie sollte sie dem Anwalt ihr Problem erklären? Selbst für ihn sollte es nicht alltäglich sein minderjährige Klienten gegen ihre Eltern zu unterstützen. Ihr Vater hatte bestimmt schon längst einen sehr guten Anwalt gefunden, die Aussicht auf seine Verurteilung war also gering. Trotzdem dachte sie dass die Wahrheit immer ans Licht kommen wird.

„ Mein Name ist Lilith Järvinen, ich bin extra aus Lappland nach London gekommen… „
began sie den Satz, dann überlegte sie kurz. „ Ich wollte sie bitten mich in einem Mordfall zu unterstützen, ich bin unschuldig das versichere ich ihnen. „ Die Finnin strich ihren Pony aus dem Gesicht um dem Anwalt direkt in die Augen sehen zu können. „ Falls es ihnen um die Bezahlung geht, ich habe genug Geld bei mir. „ Zumindest hoffte sie inständig dass es reichen würde, ihr Alter hatte sie beabsichtigt nicht gesagt. „ Danke für den Kaffee Mr. Bane „ Erneut musterte sie den Mann der ihr nun gegenüber saß. Irgendwie hatte er etwas Furchterregendes.

Denny spuckte fast seinen Kaffee wieder aus, so sehr verschluckte er sich. Er wirkte aber keinesfalls sehr geschockt, sondern eher erfreut. "Ein Mordfall? Hatte ich ja schon ewig nicht mehr. Jetzt wird es interessant, erzählen Sie, erzählen Sie!", wies er sie an und war ganz aus dem Häuschen. Dass er, falls sie kein Geld hätte, sich als Pflichtverteidiger einsetzen lassen würde, sagte er ihr aber lieber nicht. Außerdem musste sie das erst einmal vor Gericht beweisen, dass sie kein Geld hatte, und wenn sie schon sagte, sie konnte zahlen, und IHN aussuchte, war sie sicher nicht aus der unteren Gehaltsklasse.

"Wer wurde ermordet? Wo? Wie? Haben Sie es wirklich nicht getan?" Mit hochgezogenen Augenbrauen und einem versucht beruhigenden Blick, fügte er an: "Ich würde Sie auch da raushauen, wenn Sie schuldig wären, als Ihr Anwalt muss ich es nur vorher wissen, damit ich weiß, wie ich unsere Verteidigung aufbauen soll." Ja, er war erregt - zum Glück nur emotional - und spürte seinen alten Kampfsinn wieder entflammen. Er liebte Mordfälle. Vor allem, weil man da immer mit den Gefühlen der Geschworenen spielen konnte. Und wenn die Angeklagte auch noch ein junges Mädchen war, konnte man auch gleich Mitleid für das arme, so jung zerstörte Leben kriegen. Das würde lustig werden

Der dicke Mann schien doch eher erfreut über den Fall zu sein, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen sein sollte würde sich wohl noch zeigen. Obwohl sie sich allzu gut an die verhängnisvolle Nacht erinnerte fiel es ihr doch schwer es anderen Menschen zu erzählen, schon gerade weil sie Mr. Bane nicht wirklich gut kannte und er ihr nicht vertrauenswürdig erschien. Trotzdem war er der einzige Anwalt den sie um Hilfe bitten konnte, die finnischen Anwälte hätten sie direkt nach Hause geschickt und andere Englische… nun sie hätte tagelang nach einer Adresse fragen müssen, zumal ihre Zeit in London sowieso schon mehr als begrenzt war.

„ Also… „ Lilith stoppte sofort wieder und schloss nach kurzem Nachdenken ihre Augen um sich besser konzentrieren zu können. „ Der Mord ereignete sich vor ziemlich genau vor drei Jahren, im Durmstranginternat. Genauer gesagt im Nordturm, dort gibt es eine kleinere Bücherei für die Astronomieschüler… „ Die Finnin rutsche unruhig auf ihrem Sessel hin und her. „ Frederic… „ Es war ihr deutlich anzusehen dass sie schon bei dem Gedanken an ihn Probleme hatte die Fassung zu behalten. „ Sagen wir einfach Frederic und ich wollten die Nacht allein verbringen, ohne die ständige Aufsicht unserer Lehrer und besonders ohne die Kontrolle seines Vaters. Sie müssen wissen sein Vater war der Hausmeister. Jedenfalls hatte mein Vater nur auf den richtigen Moment gewartet um mich zu erwischen, er hatte nicht damit gerechnet dass es Frederic war, schließlich war er nicht einmal mehr Schüler in Durmstrang. Paps war nur im Schloss um neue Talente für die Quidditchmannschaft zu suchen und… sie überraschten… „ Jetzt war es doch passiert, Lilith hatte ihr Gesicht hinter ihren Händen verborgen und schluchzte.

Aufmerksam und sichtlich begeistert hörte der dicke Anwalt seiner neuesten Klientin zu. Mittlerweile hatte er sogar aufgehört, sie zu mustern. Sie war ihm eh viel zu jung, wenn er sie nur anrührte, würde er vermutlich schon den nicht allzu langen Rest seines Lebens im Knast verbringen müssen. Und Askaban stellte er sich nun wirklich nicht so gemütlich vor, dass er dort gerne Zeit verbringen würde.

Durmstrang also. Dort war der Mord passiert? Das änderte eigentlich alles. Vermutlich musste er dann kein britisches Recht anwenden. Das war immerhin Osteuropa. Da musste er sich erst einmal in das dort geltende Recht einlesen und schauen, was sich da machen ließ. Das würde ja ewig dauern - es sei denn, er hetzte einen Anwaltsgehilfen darauf, der ihm das alles zusammenfasste. Guter Plan.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als die junge Frau losweinte. Mit einer Schnelligkeit, die man von dem dicken, alten Mann nicht erwartet hätte, suchte er Taschentücher heraus - natürlich saubere - und reichte ihr diese. "Aber, aber, junge Dame. Natürlich ist das schlimm, aber Ihre Tränen bringen doch niemandem etwas. Den Mord machen sie nicht ungeschehen und meine Arbeit erleichtert das auch nicht. Denn je länger wir hier sitzen, desto später kann ich Ihnen helfen. Also erzählen Sie bitte weiter."