Bewerbungsgespräch im Café

Lizzie zog leicht eine Augenbraue hoch und nippte an ihrer heißen Schokolade. Das wirkte ja fast wie ein Vorstellungsgespräch, womit sie nun wirklich nicht gerechnet hatte. Aber sie hatte ja eben noch selbst gesagt, dass sie Herausforderungen mochte, und was konnte herausfordernder sein als ein unerwartetes Vorstellungsgespräch über eine Tasse heiße Schokolade? (Wenn sie ehrlich war: Vieles. Aber darum ging es hier ja nicht.)

„Das Büro Ihres Manns mag dafür nicht die beste Ausgangsposition sein,“ besonders, wenn man bedenkt, dass ich ihr nicht sagen kann, wie oft ich im Vorzimmerchen einfach gelesen habe, „aber mein abgeschlossenes Literaturstudium vielleicht schon.“ Sie lächelte selbstbewusst. „Die Unterlagen dazu haben Sie ja gewiss in meiner Bewerbung gelesen. Ich habe durchaus auch nichts dagegen, etwa in den Nachrichten zu arbeiten, aber da mich Literatur schon seit jeher interessiert hat, und ich Englische Literatur studiert habe, dachte ich, es wäre ein guter Anfang.“

Sie umfasste erneut die warme Tasse mit ihren langen Fingern, um diese zu wärmen. Doch sie sah nicht weg, sah die ältere Frau offen an. Sie hatte ja schließlich nichts zu verbergen, und wenn es doch etwas gab, dass Mrs Potter an ihrem Gesicht nicht gefiel – was sie nicht hoffte und eigentlich auch nicht annahm, die rothaarige Frau machte eigentlich nicht den Eindruck, jemanden nach Äußerlichkeiten zu beurteilen – dann konnte sie daran ohnehin nichts ändern, auch wenn sie ihr Gesicht hinter einem Vorhang langer Haare verbarg. Und wenn ihr Selbstbewusstsein sie störte, nun, das würde sie gewiss nicht abschalten.

Artemis konnte nicht verleugnen, dass sie die Antwort der jungen Frau überraschte. Ein abgeschlossenes Literaturstudium also. Sie musste zugeben, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Zumal sie die Bewerbung am gestrigen Abend nur flüchtig überflogen hatte. Sie hatte nur kurz überprüft, um wen es sich handelte und war dann darauf gestoßen, dass es sich um die Sekretärin ihres Mannes handelte, ehe sie das Schreiben erst einmal wieder bei Seite gelegt hatte und den Arbeitstag für beendet erklärt hatte. Zwar war sie niemand, der Arbeit gerne liegen lies oder auf den nächsten Tag verschob, doch irgendwann musste man auch an sich denken und den Rest des Tages ruhig ausklingen lassen. Auch wenn "ruhig" in ihrem Fall hieß allein in dem viel zu großen Haus zu sitzen und darüber nachzudenken, was in ihrer Ehe alles schief gelaufen war.
Offenbar eine ganze Menge. Und wenn sie sich die blonde Frau ihr gegenüber ein wenig genauer betrachtete, konnte es durch aus sein, dass Henry vielleicht aus genau wegen diesem hübschen Gesicht immer mehr Gefallen an seiner Arbeit, als am gemeinsamen Eheleben fand.
Instinktiv versteifte sich ihre Haltung etwas, doch ihr Gesichtsausdruck blieb weiterhin freundlich. Dieses Thema gehörte nicht hierhin und überhaupt - wie dreist müsste eine Person sein, die als Affaire des Mannes bei dessen Frau anfangen wollte? Nein. Das traute Artemis ihrer Gesprächspartnerin nicht zu. Und bisher hatte sie sich immer auf ihre Menschenkenntnis verlassen können. Abgesehen von ihrem Mann. Da war sie mittlerweile nahezu ratlos. Aber wie bereits gesagt - dieses Thema gehörte nicht hierhier und Artemis achtete stets darauf "fremden" Menschen nicht mit Vorurteilen gegenüber zu treten. Sie wollte der jungen Frau eine Chance geben, schon allein deswegen, weil sie eine helfende Hand in ihrer Redaktion durchaus gebrauchen konnte.
"Nun, es ist immer schön junge und motivierte Mitarbeiter zu gewinnen." meinte sie freundlich und nippte an ihrem noch immer dampfenden Kaffee.
Draußen prasselte der Regen noch eine Spur stärker gegen die Scheiben des Café und liesen den Raum mit seinem sanften Brummen der Gespräche noch ein weniger gemütlicher wirken. "Haben Sie sich während ihres Studiums denn auch mit Literaturkritik befasst? Aus meiner Erfahrung heraus weiß ich, dass dieser Bestandteil im Studium immer etwas zu kurz kommt. Ich selbst habe damals meine Freizeit dazu genutzt mich näher darüber zu informieren und dadurch meine Leidenschaft entdeckt." Schmunzelnd legte sie ihren Kopf ein wenig schräg und strich dabei kaum merklich mit ihren Fingern über den Rand ihrer Kaffeetasse. "Falls Ja," fügte sie hinzu und griff damit noch einmal ihre vorangehende Frage auf, "würde ich gerne einmal etwas von ihnen lesen. Vielleicht könnten Sie mir eine Leseprobe zukommen lassen? Denn sollte ich Ihnen tatsächlich diesen Posten anvertrauen, muss ich sicher gehen können, dass Sie nicht nur die blanke Theorie beherrschen." Noch immer freundlich, aber durchaus ernst blickte Artmis die junge Frau an und hoffte, dass diese bereit war sich der Herausforderung zu stellen. Und mit Herausforderung meinet Artemis nicht den Job an sich, sondern die Erfüllung ihrer eigenen Ansprüche an die vielleicht zukünftige Kollegin. Denn sympatisch war diese ihr allemal.

Elizabeth gestattete sich ein kleines Lächelnd. Ihre erste Vermutung war richtig gewesen, dieses Gespräch entwickelte sich tatsächlich zu einem Vorstellungsgespräch – und sie hatte vor, es zu ihren Gunsten auszunutzen. Sie nippte an ihrer heißen Schokolade, um etwas Zeit zu haben, damit sie sich eine wohl strukturierte Antwort zurecht legen konnte, die einen positiven Eindruck hinterlassen würde. Dabei beobachtete sie – unauffällig, wie sie hoffte – das Verhalten ihrer Gesprächspartnerin. Täuschte sie sich oder hatte sich die ältere Frau etwas versteift? Aber nein, sie war gleichbleibend freundlich, also musste sie sich wohl getäuscht haben…

„Nun ja, auch akademische Abhandlungen über literarische Texte enthalten ja eine Art Kulturkritik – wenn auch auf anderem Level als die, die in eine Zeitung gehören…“ Sie lächelte selbstbewusst. „Aber Sie haben schon recht, das eigentliche Schreiben von Reviews wird vernachlässigt. Im Grunde ist das ja seltsam, schließlich sind doch gerade die Kulturabteilungen von Zeitungen ein beliebtes Arbeitsfeld für Geisteswissenschaftler…“ Sie strich sich die Haare hinter dem Ohr zurück. „Allerdings habe ich ein paar freiwillige Kurse in diesem Bereich belegt – Arbeitsgruppen, sozusagen – also kann ich Ihnen einige der Texte, die ich während des Studiums geschrieben habe, zuschicken?“